[bigletter custom_class=““]Im Jahr werden über 42.000 Pflegekinder in Deutschland in Obhut genommen. Hinter dieser enormen Zahl stehen dramatische Familienschicksale. Es gibt viele unterschiedliche Gründe, warum Kinder und Jugendliche nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachen können. Manchmal bedarf es eben eine andere Lebensperspektive. Uns wird jedoch verdeutlicht, dass es einen hohen Bedarf an Bereitschaftspflegefamilien geben muss, um in dieser schweren Zeit für diese Kinder da zu sein, sie zu schützen, sie zu fördern und zu umsorgen.
Dennoch laufen die Mühlen im Hintergrund viel zu langsam. In Sachen Formalitäten und Rechtsprechung. Unsere Gerichte sind schlechtweg überlastet. Zudem kommt das es einfach zu viele Pflegekinder gibt und viel zu wenig Pflegeeltern. Dieses Thema ist so umfangreich und macht mich traurig und nachdenklich zu gleich. Die Liebe Tabea berichtet in ihrem Beitrag über dieses, wie ich finde, sehr interessantes Thema.
Und ihr könnt helfen! Ihr könnt mit eurer Unterschrift dazu beitragen die Petition, die Tabea ins Leben gerufen hat, zu unterstützen.[/bigletter]
Tabea: Mein Mann und ich haben drei Kinder – ein Mädchen, zwei Jungs – und immer noch nicht genug. Nein! Keine eigenen Kinder mehr (aller guten Dinge sind doch drei)! Wir beschlossen, fremden Kindern zu helfen. Nachdem uns Spenden an SOS-Kinderdörfer oder Kinderhospize nicht endgültig zufrieden stellten, beschlossen wir, Hilfe in die Tat umzusetzen. Wir empfanden, dass unsere taten gebraucht werden. Schließlich sahen wir Kinder, denen es in ihren eigenen Familien nicht so gut ging, wie unserem eigenen Nachwuchs. Wir sahen Kinder leiden – nicht weit weg – direkt nebenan, in unmittelbarer Nachbarschaft.
Wir bewarben uns nach langer Zeit des gründlichen Überlegens beim Jugendamt als Bereitschaftspflege-Familie.
Bereitschaftspflege? Was ist das?
Im ersten Gespräch mit dem Jugendamt beschrieb man uns das so: „Ihr seid bereit, Kinder kurzfristig aufzunehmen, die vom Jugendamt in Obhut genommen werden. Sie werden aus ihren Familien geholt, weil es ihnen dort nicht gut geht. Nach etwa drei Monaten ist spätestens geklärt, wo das Kind den Rest seiner Kindheit verbringen wird.“ Klingt doch gut! Zusammengerechnet könnte man pro Jahr also vier Kindern direkt zur Seite stehen, sie ein Stück ihres Weges begleiten und somit über eine ungewisse Zeit hinweghelfen. So unser Plan!
Die Umsetzung
Also gingen wir’s an: wir holten uns das Einverständnis unserer Kinder, durchliefen Gespräche mit dem Jugendamt, füllten Fragebögen aus, holten ein Polizeiliches Führungszeugnis und ein ärztliches Attest, dass wir körperlich und psychisch in der Lage sind, fremde Kinder zu betreuen. Unsere Wohnung wurde so hergerichtet, dass ein Kind – immer jünger als unser Jüngster (damit die Geschwister-Konstellation nicht durcheinander kommt und Hierarchien erhalten bleiben) – aufgenommen werden kann. Mehr braucht es eigentlich auch schon nicht. Viele Jugendämter und freie Träger bieten inzwischen einen Kurs an, um zukünftige Bereitschaftspflegeeltern auf diese Aufgabe bestmöglich vorzubereiten. Das finde ich gut, weiß man doch nicht, mit welchem „Rucksack“ so ein Kind in der Familie Einzug hält. Innerlich vorbereitet zu sein ist wichtig.
Und dann… kommt ein Anruf… in unserem Fall ging das unglaublich schnell – 14 Tage nachdem wir das Jugendamt abschließend bei uns hatten.
Hier ist ein Mädchen, 14 Monate alt, augenscheinlich vernachlässigt – geht’s?
Willkommen in unserer Familie
Tja, dann kommt ein Kind… Selten bekommt man mehr Informationen. Oftmals muss man einfach schauen und beobachten. Ein Kind kommt – weg vom vertrauten Zuhause – weg von vertrauten Personen – weg von vertrauten Geräuschen, Gerüchen…
Zuerst nur willkommen heißen. Besser weniger als mehr. Das Kind sucht sich einen „Anker“ bei uns – nicht selten eines unserer Kinder. Ist derjenige da, heißt es Sicherheit! In Ruhe ankommen, traurig sein dürfen, Angst haben dürfen, aber auch getröstet werden, respektiert werden…
Nach einigen Tagen relativiert sich das. Das Kind wächst in die Situation hinein, kommt an. Es erfährt (vielleicht das erste Mal in seinem Leben) Tagesstruktur und Aufmerksamkeit.
Und nach drei Monaten?
Nach den drei Monaten läuft meist alles wie am Schnürchen – man hat sich kennengelernt. Aufstehen, Anziehen, Essen, Termine (regelmäßige begleitete Besuchskontakte mit den leiblichen Eltern, Arzttermine, Therapien…), Körperpflege, Einschlafen – es läuft! Und es ist nicht zu Ende! Weit gefehlt! In den seltensten Fällen ist so zügig geklärt, wie es mit dem Kind weitergeht. Es haben viele Seiten mitzutragen, mitzuentscheiden…
Der zuständige Sachbearbeiter im Jugendamt, die Eltern, eventuell ein Familiengericht, ein bestellter Gutachter (der, vom Familienrichter angeordnet, prüfen soll, ob die leiblichen Eltern überhaupt erziehungsfähig sind), Ärzte, Therapeuten… Das zieht sich in die Länge. Gehen wir davon aus, ein Jugendamtsmitarbeiter hat allein 70 Familien zu betreuen, ein Familienrichter 80 Fallakten auf seinem Tisch… Wo bleibt die Zeit, das einzelne Kind, dessen Geschichte, dessen Wünsche und Sorgen, dessen Rechte und Ansprüche zu betrachten?
Das Ende
Nach sechs bis neun Monaten bei uns hat das Kind ein neues Zuhause bekommen. Alles bei uns ist jetzt das Normale, das Alltägliche – wir sind seine Familie.
Und so verlebt man gemeinsam: Winter, Karneval, Frühling, Ostern, Sommer, Urlaub, Geburtstage, Herbst, St.-Martins-Singen, Winter, Weihnachten… Und dann wieder von vorn! Ja, tatsächlich! Bis die Perspektive geklärt ist, vergeht meistens MINDESTENS ein ganzes Jahr und manchmal sogar noch länger!
Dann erst ist geklärt: Zurück zu den Eltern? In eine Dauerpflege-Familie? Oder in eine andere Wohnform (Heim, Wohngruppen)?
Weiß man das, beginnt eine „Überleitung“, eine „Anbahnung“ – also langsam Abschied nehmen. Das Kind wird (auf jeden Fall zum zweiten Mal in seinem Leben) eine Trennung verkraften müssen. Das ist unglaublich belastend für ein Kind! Und auch für uns als Bereitschaftspflege-Familie, das will ich nicht leugnen! Es ist Trauerarbeit! Wir versuchen, ganz bewusst als Familie Abschied zu nehmen – nicht mehr festhalten, gehen lassen – aber auch noch einmal was richtig Schönes gemeinsam machen zum Abschluss (sei es Eis essen, Spielplatz besuchen… je nachdem, was das Kind auch wirklich gerne mag). Als Familie geben wir ein Fotobuch mit Erinnerungen ins neue Zuhause, ein Segensspruch, die Noten unseres „ultimativen Pflegekind-Gute-Nacht-Liedes“. Wir suchen zusammen, was wir gerne mitgeben möchten – einerseits, um uns den Abschied und andererseits, um dem Kind das Einleben mit bekannten und geliebten Sachen zu erleichtern.
Geht ein Kind in seine neue Zukunft, braucht jeder in unserer Familie meist erst ein paar Minuten nur für sich – zum Weinen, Durchatmen, Nachdenken.
Wir handhaben es als Familie bewusst so, dass wir nicht direkt ein neues Kind aufnehmen, sondern „Urlaub als Kernfamilie“ machen – wir benötigen neue Kraft, innere (Familien-)Stärke. Erst dann sind wir bereit, einem neuen Kind mit seinen Ansprüchen gerecht zu werden. So haben wir nun schon sieben Kinder in fünf Jahren begleiten dürfen auf ihrem Stück Lebensweg. Zwei davon gaben wir in eine Dauerpflegefamilie (hier zogen sich die Verfahren bis zu einem Jahr und länger), zwei gingen zurück zu den Eltern, zwei kamen in eine Wohngruppe und unser siebter Zwerg ist gerade noch auf seinem Weg… Wer weiß, wie lange, wer weiß, wohin?!
Ich kann es ja nicht ändern!
Das Kind hat keine Möglichkeit, in diesen Prozess der Klärung einzugreifen. Auch wir als Familie können Nichts ändern! Wir haben keinerlei Einfluss und Befugnisse…
Aber das hat mich nicht zufrieden gestellt! Es geht doch um Kinder! Um deren Wohl! Und damit um das Wohl unserer Gesellschaft!
Ich möchte etwas ändern! Und so habe ich eine Petition ins Leben gerufen. An zwei Stellen muss zuerst angesetzt werden – an der Mitarbeiterzahl in Ämtern und Gerichten. Es geht nicht, dass ein Jugendamtsmitarbeiter noch nicht einmal die Kinder kennt, die er betreut, weil er einfach keine Zeit hat für einen Besuch. Es geht nicht, dass ein erster Verhandlungstermin bei Gericht erst nach einem halben Jahr frei ist, weil der Richter auch nur seine Akten abarbeiten kann.
Kommt zu einem Mitarbeiter, der 80 Fälle hat, nur ein Mitarbeiter dazu, haben beide „nur“ noch 40 – da kann man dann schon mal aus dem „Fall“ einen „Justus“, eine „Sophie“ oder eine „Familie Kunze“ machen.
Damit wäre ein Anfang gemacht!
Und dann kann man weitersehen, weitergehen…
Jeder Einzelne kann etwas tun – und das heißt noch nicht einmal: Werdet jetzt alle (Bereitschafts-)Pflegeeltern! Davon werden natürlich überall händeringend liebe Menschen gesucht – fühlt Euch gerne berufen! Einfacher geht es auch: um eine Petition zu unterschreiben, muss man noch nicht einmal volljährig sein – nur seine Meinung äußern können. Nur Mut! Kinder brauchen eine Stimme – je mehr Stimmen, umso lauter wird’s! Ich war vor einigen Wochen auf einer Fridays-for-future-Demo in Berlin. Das war wortwörtlich laut! Setzt Euch für Natur-, Tier- UND Kinderschutz ein! Seid laut, helft mit! Die Kinder werden es Euch danken!
What do you think?